Bindungsangst – 3. Warum Bindungsangst?

Warum wir mit Bindungsangst gerne mal weglaufen – und wie wir es ändern können.

Bindungsangst – der Ausdruck allein lässt schon erahnen, dass hier etwas nicht ganz rund läuft. Viele von uns haben sie schon einmal erlebt, sei es, wenn es in der eigenen Beziehung ernst wurde oder auf der anderen Seite, wenn der Partner plötzlich wie vom Erdboden verschwindet – emotional oder buchstäblich. Aber warum passiert das? Warum laufen Menschen mit Bindungsangst weg, sobald es ernst wird? Die Antwort ist so simpel wie komplex: Es geht um unser Überleben. Und das meine ich wortwörtlich.

Überleben und emotionale Wunden: Ein unsichtbares Band

Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, uns zu schützen. Schon von klein auf lernen wir, Gefahren zu meiden. Wenn du in deiner Kindheit unsichere Bindungserfahrungen gemacht hast, hat das eine tiefe Wunde hinterlassen – selbst wenn du dich daran nicht bewusst erinnerst. Das bedeutet, dass dein System auf Alarmmodus schaltet, sobald die Nähe zu jemandem als „Bedrohung“ empfunden wird. Hierbei spreche ich nicht von einer tatsächlichen Gefahr, sondern von einer inneren, emotionalen Angst, die wir oft kognitiv nicht greifen können. Diese Wunde ist so tief, dass wir sie möglicherweise komplett ausgeblendet haben.

Wenn wir keine liebevolle Bindung gelernt haben, vermissen wir sie vielleicht auch nicht – oder? Das wäre einfach, wenn da nicht unser Instinkt wäre, der uns unterschwellig signalisiert, dass da doch mehr sein könnte.

Bindungsangst: Ein Trick des Nervensystems

Das Kernproblem bei Menschen mit Bindungsangst ist, dass Sicherheit in einer Beziehung für sie eine Bedrohung darstellt. Das klingt widersprüchlich, ist aber ganz logisch. Sicherheit bedeutet, sich fallen zu lassen und Kontrolle abzugeben – und genau das löst Angst aus. Wer als Kind das Vertrauen verloren hat, weil niemand da war, weiß, wie schmerzhaft das sein kann, egal wie verlockend Nähe erscheinen mag. Die Frage „Warum wurde ich im Stich gelassen?“ bleibt oft unbeantwortet und hinterlässt ein tiefes Gefühl der Enttäuschung und Wertlosigkeit.

Ein Klient sagte mir einmal in einer Sitzung: „Nach dem Sex ist es für mich vorbei, dann muss ich weg. Die Nähe halte ich nicht aus. Wenn meine Partnerin sagt: ‚Lehn dich doch an mich, ich will dich halten,‘ friere ich ein und fühle mich wie ein kalter Stein.“ Als wir tiefer gingen, kam die Klarheit: „Wenn ich mich fallen lasse und sie geht weg, werde ich das nicht überleben.“ Dieser Moment war von Schmerz erfüllt, aber er brachte eine entscheidende Erkenntnis.

Solange alles unverbindlich und „frei“ bleibt, fühlt sich das Nervensystem entspannt. Menschen mit Bindungsangst tendieren deshalb zu offenen Beziehungen oder suchen oft polyamore Konstellationen, weil es dort immer einen „Ausweg“ gibt. Es soll hier nicht falsch verstanden werden: Diese Beziehungsmodelle sind in Ordnung, solange alle Beteiligten glücklich damit sind. Doch in meiner Praxis erlebe ich oft, dass mindestens einer im Kernpaar einfach mitmacht, um den anderen nicht zu verlieren.

Erziehung und Familienstrukturen: Ein Blick hinter die Fassade

In meiner Praxis arbeite ich oft mit Männern und Frauen, die unter Bindungsangst leiden, und eines habe ich dabei immer wieder beobachtet: Keiner dieser Klienten kam aus einer gesunden, stabilen Familienstruktur. Bindungsangst ist selten ein Zufallsprodukt, sondern tief in den familiären Beziehungen verwurzelt. Oft wachsen diese Menschen mit überforderten, alleinerziehenden Müttern auf, die von ihnen emotionalen Beistand erwarten. Der Vater? Meistens abwesend – entweder emotional oder körperlich. Oft ist er nur der Wochenendbesucher, der seine eigenen Bedürfnisse über die der Familie stellt.

Es überrascht daher nicht, dass für viele die Männlichkeit oder Weiblichkeit in der Kindheit zur Bedrohung wurde. Die Mutter war überlastet, der Vater distanziert. Kein Wunder also, dass das Thema Bindung so kompliziert ist. Menschen mit Bindungsangst entwickeln häufig eine starke Selbstkontrolle – sei es im Beruf, beim Extremsport oder in anderen Bereichen, wo sie alles im Griff haben.

Bindungsangst auflösen – Ja, das geht!

Und jetzt der gute Teil: Bindungsangst lässt sich auflösen – und zwar durch das, wovor man am meisten Angst hat: sich binden. Richtig gehört! Es gibt nichts, das einem Menschen mit Bindungsangst so gut tut wie eine gesunde, tragfähige Beziehung. Doch das passiert nicht von allein. Es braucht Arbeit, Geduld und oft auch professionelle Unterstützung.

Eine Beziehung kann ein Spiegel sein, der uns unsere eigenen Ausflüchte vorhält. Ein Partner, der fragt: „Merkst du, dass du dich gerade distanzierst?“, kann helfen, die verborgenen Gefühle ans Licht zu bringen. Ja, das ist schmerzhaft, aber es ist der Weg, um sich den inneren Wunden zu stellen und sie zu heilen. Oft begleitet ein Coach oder Therapeut diesen Prozess – sei es in Einzel- oder Paartherapie.

Der Drang, wegzulaufen – Ein Überbleibsel aus der Kindheit

Menschen mit Bindungsangst laufen nicht weg, weil sie die Beziehung nicht wollen. Ganz im Gegenteil. Unsere Natur ist es, sich zu binden, Liebe zu finden, ein Zuhause zu schaffen. Aber genau diese Angst vor dem Schmerz und der Verletzung, die wir in der Kindheit erlebt haben, treibt uns in die Flucht. Das Nervensystem sagt: „Rette dich, bevor es wieder weh tut!“

„Alleine bist du sicherer“

Es ist ein Teufelskreis, der nur durchbrochen werden kann, indem wir erkennen, dass es heute nicht mehr um Überleben geht. Das Risiko, verletzt zu werden, besteht immer – aber die Chance, dass wir uns in einer gesunden Beziehung geborgen fühlen, ist viel größer, als wir es uns vorstellen können. Denn was wir nicht kennen, können wir uns nur schwer vorstellen.

Verantwortung und das große Ganze

Bindungsangst aufzulösen bedeutet nicht nur, sich selbst zu heilen, sondern auch Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen. Kinder, die in einem gesunden Umfeld aufwachsen, lernen Vertrauen, Sicherheit und wie man sich in Beziehungen auf natürliche Weise bindet. Wenn wir unsere eigenen Wunden nicht heilen, geben wir diese Unsicherheit an unsere Kinder weiter – und der Kreislauf wiederholt sich.

Es ist also nicht nur eine persönliche Aufgabe, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung, sich den eigenen Ängsten zu stellen. Wir können den Schmerz und unsere Sehnsucht nicht ignorieren und hoffen, dass sie einfach verschwinden. Sie werden immer da sein, bis wir ihnen Raum geben und durch den „alten“ Schmerz hindurchgehen. Denn das Schlimmste haben wir bereits überstanden!

Fazit: Raus aus der Flucht – Rein in die echte Verbindung

Bindungsangst ist keine Endstation. Sie ist eine Herausforderung, die wir überwinden können, indem wir den Mut haben, uns dem Schmerz zu stellen, anstatt immer wieder wegzulaufen. Mit einem liebevollen Partner an unserer Seite und der richtigen Unterstützung können wir uns der Realität stellen: Die Angst ist da, aber sie muss nicht unser Leben bestimmen. Wer sich traut, sich zu binden, kann nicht nur seine eigenen Wunden heilen, sondern auch eine Beziehung aufbauen, die auf Vertrauen, Liebe und echter Nähe basiert.

Wer mehr zu dem Thema lesen möchte:

Vom Jein zum Ja!: Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft

Autorin: Stefanie Stahl

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