
Sexuelle Freiheit beginnt im Kopf: früh erlernte Muster trennen uns von unserer Lust– Veränderung möglich wird. Erziehung, Scham und Glaubenssätze hemmen uns – wir können aber wieder Zugang zu unserer Sexualität finden.
Das erste Wort, das viele Kinder lernen, ist „Nein“. Es markiert Grenzen, vermittelt Kontrolle und stellt Ordnung her. Doch dieses kleine Wort ist oft der Beginn einer inneren Trennung, besonders wenn es um unseren eigenen Körper, um Neugier und um Lust geht. So ähnlich ist es auch, wenn Kinder beginnen, ihre Sexualität zu entdecken, und auf Erziehungsmuster treffen, die nicht Erkundung, sondern Begrenzung lehren. Es ist erstaunlich, wie Generationen mit tiefer Scham auf das Selbstverständnis von Leben und Körper reagieren. Die verbotene Lust ist allgegenwärtig.
Wusstest du, dass Essen und Sexualität in unserer Gesellschaft zu den am stärksten tabuisierten Themen gehören? Beides sind grundlegende, instinktive Bedürfnisse. Und doch begegnen wir ihnen selten unvoreingenommen. Hast du schon einmal erlebt, wie ein fünfjähriges Kind lustvoll mit der Hand in eine bunte Torte greift – einfach, weil es Lust darauf hat? Und dann kommt der Satz: „Das macht man nicht.“ Wer ist eigentlich dieser „man“? Dieser „man“ taucht täglich in jeder Familie auf. Die Sexualität soll laut religiöser Normen dem Zweck der Fortpflanzung dienen – am besten still, im Dunkeln und hinter verschlossenen Türen.
In meiner Praxis stelle ich meinen Klient:innen regelmäßig eine einfache Frage: „Was hast du in deiner Familie über Liebe, Zuneigung, Begehren oder Körperkontakt gelernt?“ Die Antwort ist oft Irritation – „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ Dann kommt Unsicherheit. Scham. Und diese Scham spricht Bände. Wenn uns nicht bewusst ist, welche Bedürfnisse wir haben dürfen – wie sollen wir sie dann erkunden oder gar leben?
Bedürfnisse stauen sich auf, werden abgespalten oder verdrängt und zeigen sich später in anderen Formen: als Unzufriedenheit im Alltag, als Frustration in Beziehungen, als Orientierungslosigkeit in der Sexualität. Viele berichten, dass sie sich selbst nicht wirklich spüren, geschweige denn wissen, was sie möchten oder brauchen. Nicht selten kommt bei der Frage nach der Sexualität in der Beziehung ein Augenrollen, ein tiefes Seufzen, ein „Oh Gott…“ Wie kannst du etwas lösen, worüber du nicht sprechen darfst?
Letztens sagte eine Klientin: „Brave Mädchen machen so etwas nicht mit ihrem Mann.“ Ich fragte: Wer denn dann? Und wohin soll er gehen? Natürlich gilt die Frage auch umgekehrt: „Meine Frau ist doch keine Schlampe.“ Okay – was ist eigentlich eine Schlampe? Eine Frau, die Spaß an Sex mit ihrem Mann hat?
Manche versuchen, diese Kluft zu überbrücken – sie besuchen Kurse, in denen sie lernen, sich zu streicheln, zu fühlen, sich wieder zu entdecken. Doch ein Aspekt bleibt oft unbeachtet: Die Glaubenssätze im Kopf bleiben die gleichen. Zuhause funktionieren die Übungen nicht mehr, weil dir niemand beigebracht hat, lustvoll über Lust zu sprechen – siehe „Dirty Talk“. Stattdessen konsumieren viele Pornografie, die wenig mit echter Intimität oder Verbindung zu tun hat. Die Verwechslung von Lust und Liebe beginnt früh – verstärkt durch mediale Bilder und fehlende Gespräche.
Ein Beispiel, das mich auf einem Seminar sehr bewegt hat: Zwei Kindergärtnerinnen aus unterschiedlichen Städten diskutieren, wie sie mit kindlicher Neugier auf den eigenen Körper umgehen. Die eine sagt: „Wenn sich Kinder zu oft berühren, bestellen wir die Eltern ein, um mögliche sexuelle Übergriffe auszuschließen.“ Die andere meint: „Wir beobachten, ob ein Kind mit übermäßiger Selbstberührung Stress abbaut – also Lust mit Druck kompensiert.“ Hier zeigt sich: Selbst Fachleute sind sich nicht einig. Kein Wunder – auch sie tragen eigene Prägungen. Und: Es gibt bis heute keine fundierte Ausbildung für pädagogisches Personal zu diesem Thema!
Wir wachsen auf mit Stimmen, die uns sagen, was wir fühlen dürfen: Eltern, Großeltern, Religionen, Schulen, Medien. Und manchmal auch mit Erfahrungen von Grenzverletzungen. Ist es da verwunderlich, dass sich so viele nach Liebe sehnen, aber nicht wissen, wie sie sie leben sollen?
Ein großer Teil der sexuellen Unzufriedenheit beginnt dort, wo Menschen ihre Bedürfnisse nie definieren durften. Studien zeigen, dass viele Frauen bis ins hohe Erwachsenenalter keinen selbstbestimmten Orgasmus erleben. Viele Männer wiederum glauben, ihre Partnerinnen gehörten zur „zufriedenen Mehrheit“. Was, wenn sie es nicht tun? Wie schmerzhaft, wenn ein Mann erfährt, dass seine Frau seit 30 Jahren keinen Spaß im Bett hatte – und er nie gemerkt hat, dass es nicht um Verbindung ging. Vielleicht durfte auch er nie lernen, zu lieben. Ein Dilemma.
Ich freue mich über jede Person, die in meine Praxis kommt und fragt: „Was habe ich über Körper, Nähe und Lust gelernt?“ und beginnt zu hinterfragen, warum Lust im Kopf nicht im Körper landet. Es braucht keine Theorie – nur Mut. Ist das, was du möchtest, wirklich deins – oder wurde es dir beigebracht?
Zu sein und zu lieben ist wunderbar. Doch für viele kein angstfreier Weg. Genau da fängt es an. Mut heißt nicht, keine Angst zu haben, sondern ihr etwas entgegenzusetzen. Nur das Gleichgewicht unserer Gefühle macht uns vollständig. Abgespaltene Emotionen schaffen den Nährboden für Depression. Beginne, deine Bedürfnisse zu erkunden. Sprich mit deinem Partner – auch über das, was du nicht willst. Intimität ist kein Ort für Druck, sondern für Verbindung.
Wenn jemand seine sexuelle Energie nutzt, um Stress abzubauen, wird das Gegenüber es spüren. Es geht dann nicht um Nähe, sondern um Entladung. Höre auf, deinen Körper nur zu benutzen. Fang an, zu leben. Fang an, zu lieben – nicht unter Leistungsdruck, sondern mit Hingabe.
Du hast alles mitbekommen, was es braucht für ein erfülltes Sexualleben. Sei neugierig auf dich selbst. Und auf das, was du dich bisher nicht zu fragen getraut hast.
Hilfestellungen für den Alltag:
- Frage dich: Was ist mein Bild von Lust? Wer hat es geprägt? Wie schambesetzt ist dieses Thema für mich?
- Beobachte dich ohne Urteil: Wann spüre ich Lust? Wann nicht? Was brauche ich in diesen Momenten? Verwechsle ich Lust mit Macht?
- Sprich darüber: Mit einem Menschen deines Vertrauens. Nicht, um verstanden zu werden, sondern um dich selbst zu hören.
- Erlaube dir Neugier: Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um dein eigenes Erleben.
- Such dir Unterstützung: Wenn du spürst, dass alte Tabus tief sitzen, kann professionelle Begleitung helfen.
Fazit: Die verbotene Lust ist keine biologische Schranke, sondern eine kulturelle. Sie beginnt mit einem „Nein“ – und kann durch ein inneres „Ja“ überwunden werden. Dieses „Ja“ ist der Anfang von Selbstannahme, Freiheit – und vielleicht auch von Liebe.
Männer können nicht lieben, wenn ihnen die Kunst zu lieben nicht beigebracht wurde.