Ich war Mamas große Stütze, ich war stark, vernünftig, still und unsichtbar.
Was ist Parentifizierung?
Parentifizierung beschreibt systemisch eine Umkehr familiärer Rollen: Das Kind übernimmt Verantwortung oder Aufgaben, die eigentlich den Eltern obliegen.
In schweren Zeiten wie beispielsweise Kriegszeiten war Parentifizierung eine Überlebensstrategie. Wenn der Vater im Krieg war oder verstarb und die Mutter überlastet war, übernahmen Kinder Pflichten, um die Familie zu stützen. In der heutigen Zeit des Wohlstands betrachten wir diese Dynamik anders. Viele fragen ihre Eltern: „Warum wart ihr nicht für mich da? Warum konnte ich nicht einfach Kind sein?“ Heute geht es uns nicht mehr nur um das Materielle – satt, sauber, trocken –, sondern auch um die emotionale Unterstützung und Zuwendung, die wir uns gewünscht hätten.
Dieser Artikel beleuchtet, wie sich eine verkürzte oder nicht gelebte Kindheit auf die Persönlichkeit und Beziehungen eines Menschen auswirkt.
Die Rollen im Elternhaus
Für parentifizierte Kinder ist die Rollenverteilung im Elternhaus vertauscht. Sie übernehmen in manchen Bereichen die Rolle der Eltern für ihre eigenen Eltern, meist für die Mutter. Das Kind füllt emotionale oder praktische Lücken, um das überforderte Elternteil zu unterstützen. Dabei entwickeln diese Kinder oft besondere Kompetenzen wie Empathie, Verantwortungsbewusstsein und ein sensibles Gespür für die Bedürfnisse anderer. Sie passen sich an, um in der Familie nicht „unterzugehen“ und um den Kontakt und die Liebe zu sichern, nach der sie sich sehnen.
Kinder in dieser Rolle empfinden oft eine Mitschuld an familiären Problemen und versuchen, das emotionale Gleichgewicht in der Familie zu stabilisieren. Dafür stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse zurück und lernen, belastende Situationen allein zu bewältigen. Zu früh wachsen sie zu „kleinen Erwachsenen“ heran und lassen die freie, erforschende Phase der Kindheit aus.
Zwei Formen der Parentifizierung: Praktische und emotionale
Praktische Parentifizierung
Das Kind übernimmt Aufgaben, die nicht altersgemäß sind, wenn die Eltern dies nicht leisten können. Dazu gehören das Putzen, Einkaufen, Kochen oder die Betreuung jüngerer Geschwister. Diese Kinder entwickeln Selbstständigkeit, Zuverlässigkeit und Organisationstalent. Später fällt es ihnen jedoch oft schwer, die Kontrolle abzugeben oder anderen zu vertrauen, da es in der Kindheit sicherer war, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Emotionale Parentifizierung
Hier wird das Kind zur emotionalen Stütze für die Eltern. Es wird zum Vertrauten oder „Therapeuten“ der Eltern und entwickelt dabei eine tiefe emotionale Intelligenz und Einfühlungsvermögen. Langfristig kann dies dazu führen, dass es seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt und sich in erwachsenen Beziehungen schwer tut, sich vollständig zu öffnen und die Kontrolle loszulassen.
Die drei zentralen Herausforderungen durch Parentifizierung
1. Die Beziehung zu sich selbst und zu anderen
Kinder, die früh Verantwortung übernehmen mussten, lernten oft, Kontrolle zu bewahren, um Sicherheit zu schaffen. Diese starke Kontrolle kann es ihnen später schwer machen, sich auf Freude oder Unbeschwertheit einzulassen. Positive Emotionen uneingeschränkt zu empfinden oder sich gehen zu lassen fällt schwer. In Beziehungen führt dieses Kontrollmuster häufig zu Distanz und Anspannung, da tiefes Vertrauen nicht leichtfällt. Das ständige Verantwortungsgefühl kann dazu führen, dass sie eigene Bedürfnisse kaum wahrnehmen oder vertreten.
2.Die Beziehung zu den eigenen Kindern
Im Umgang mit ihren eigenen Kindern erleben viele parentifizierte Menschen ein inneres Ungleichgewicht. Die natürliche Lebendigkeit und Neugier ihrer Kinder rufen oft unverarbeitete Gefühle aus der eigenen Kindheit hervor. Laute, ausgelassene Freude ihres Kindes kann innere Unruhe und den Wunsch nach Ruhe auslösen, da in der eigenen Kindheit ausgelassenes Verhalten oft negative Konsequenzen hatte. So wird das spontane Verhalten des eigenen Kindes unbewusst als bedrohlich wahrgenommen, was die Eltern-Kind-Beziehung belasten kann.
Zusätzlich tendieren parentifizierte Eltern häufig dazu, ihre Kinder „überzuversorgen“. Sie versuchen oft, ihren Kindern die Einsamkeit und Unsicherheit zu ersparen, die sie selbst als Kinder erlebt haben. Damit setzen sie unbewusst jedoch sehr enge „Leitplanken“, die dem Kind wenig Raum zum Ausprobieren und für eigene Erfahrungen lassen. Da diese Eltern in ihrer eigenen Kindheit oft keine Möglichkeiten hatten, spielerisch zu erkunden und selbstständig Lösungen zu finden, projizieren sie ihre Ängste auf die Kinder und schränken diese ein. Das Bedürfnis, das Kind zu beschützen, führt dann dazu, dass es wenig Freiheit bekommt, sich in der Welt zu behaupten und eigene Lösungsansätze zu entwickeln.
Durch diese engen Regeln und übermäßige Fürsorge wird das Kind oft der Freude an seiner eigenen Selbstwirksamkeit, Kreativität und Entdeckungslust beraubt. Statt selbstständig Herausforderungen zu meistern und die Erfolge eigener Lösungen zu erleben, folgt es „stumpf“ vorgegebenen Wegen. Die Freude, die normalerweise aus dem Erkunden, Erleben und selbst gefundenen Erfolg resultiert, bleibt dadurch auf der Strecke. Das Kind lernt, sich zwar zurechtzufinden, doch ohne die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten auszubauen und diese Freude über das eigene Können zu empfinden.
Hier könnte ein Loslassen und das „Kind auch mal hängen lassen“ ungeahnte Fähigkeiten fördern. Indem die Eltern dem Kind Freiraum geben, selbst Lösungen zu finden und sich auszuprobieren, unterstützen sie dessen Entwicklung und geben ihm die Chance, sich als eigenständig und kompetent zu erfahren. Vertrauen, Loslassen und das Aushalten dieser Prozesse kann für den parentifizierten Elternteil eine große Herausforderung, zugleich aber auch eine heilsame Erfahrung sein – für das Kind und für das eigene innere Kind, das auf diese Weise lernen darf, Kontrolle abzugeben und Vertrauen zu entwickeln.
Denn wenn es darum geht die Fliege in die Dose zu bekommen, gibt es nicht nur einen Weg!
3. Das parentifizierte Kind erhöht sich gegenüber den Eltern und sehnt sich nach „Nachversorgung“
Eine weitere Folge der Parentifizierung ist oft, dass das Kind sich emotional über die Eltern „erhöht“, da diese nicht die Verantwortung und Fürsorge übernehmen konnten, die es sich gewünscht hätte. Bedingt durch familiäre Schwierigkeiten wie finanzielle Nöte, Scheidung oder gesundheitliche Probleme der Eltern mussten sich diese Kinder früh allein zurechtfinden. Sie spüren oft eine tiefe Enttäuschung und das Fehlen stabiler elterlicher „Leitplanken“.
Diese Sehnsucht nach elterlicher Fürsorge kann zu einer idealisierten Erwartung führen: Das Kind – nun erwachsen – empfindet, dass die Eltern ihm noch etwas schuldig sind, und hofft, die verpasste elterliche Unterstützung im Nachhinein zu erhalten. Diese Erwartungen können das Verhältnis zu den Eltern belasten. Einerseits sehnt sich das erwachsene Kind nach elterlicher Fürsorge, andererseits fällt es ihm schwer, die Eltern auf Augenhöhe zu sehen oder ihre heutigen Grenzen zu akzeptieren.
Oft steckt hinter dieser Erwartung eine kindliche Wut und das Gefühl, als Kind überfordert gewesen zu sein und allein gelassen worden zu sein. Der Wunsch nach Nähe ist groß, doch die Angst, erneut zurückgewiesen zu werden, ist ebenfalls stark – ein Pendeln zwischen Sehnsucht und Angst vor Enttäuschung.
Mit was würdest du in Kontakt kommen wenn du verstehen würdest, dass deine Eltern ihr bestes gegeben haben?
Fähigkeiten und Herausforderungen parentifizierter Kinder
Kinder, die früh Verantwortung übernehmen mussten, entwickeln Fähigkeiten, die im späteren Leben nützlich sind – aber auch Herausforderungen mit sich bringen. Hier einige Merkmale:
- Hohes Verantwortungsbewusstsein: Diese Kinder übernehmen Pflichten ohne zu zögern. Später fällt es ihnen jedoch schwer, eigene Grenzen zu setzen und „Nein“ zu sagen, was zu Überlastung führen kann.
- Ausgeprägte Empathie: Sie entwickeln ein starkes Gespür für die Gefühle anderer, was zu tiefen Bindungen führt, doch sie neigen dazu, ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen.
- Konfliktvermeidung: Um familiäre Spannungen zu mildern, haben sie gelernt, Konflikte zu vermeiden, was sie später dazu veranlasst, Probleme allein zu tragen.
- Selbstständigkeit und Organisationstalent: Durch die frühen praktischen Aufgaben lernen sie Disziplin, doch später fällt es ihnen schwer, Verantwortung abzugeben.
- Hohe Anpassungsfähigkeit: Sie passen sich gut an die Bedürfnisse anderer an, doch dabei vernachlässigen sie oft eigene Wünsche.
- Schwierigkeiten beim Loslassen und Freude empfinden: Kontrolle war für sie ein Schutzmechanismus. Spontane Freude und Unbeschwertheit fallen ihnen schwer, und die Lebendigkeit ihrer eigenen Kinder kann alte Unsicherheiten und Trauer auslösen.
- Überhöhung der Eltern und fehlende Abgrenzung: Viele empfinden eine tief verwurzelte Distanz zu ihren Eltern, die das Verhältnis belastet und das Gefühl der Abgrenzung erschwert.
Mögliche langfristige Folgen und Herausforderungen
- Pflichtgefühl: Ständig Verantwortung übernehmen, oft zulasten der eigenen Bedürfnisse.
- Empathie ohne Abgrenzung: Verständnis für andere, mit Schwierigkeiten, eigene Grenzen zu setzen.
- Unterdrückte Eigenbedürfnisse: Wünsche werden vernachlässigt oder als unwichtig eingestuft.
- Gefahr der Ausnutzung: Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen, und das Gefühl, immer für andere da sein zu müssen.
- Starkes Harmoniebedürfnis: Der Wunsch nach Frieden kann eigene Konflikte verdrängen.
- Kontrollbedürfnis: Dinge selbst zu machen gibt Sicherheit; Delegieren fällt schwer.
- Schnelle Schuldgefühle: Wenn etwas nicht klappt, wird die Verantwortung oft auf sich selbst bezogen.
- Perfektionismus: Hohe Ansprüche an sich selbst, oft, um Anerkennung zu erhalten oder zu bestätigen. Hohe Erwartungen an Freunde und eigene Familie, nicht selten durch Kontrolle und Druck unterstrichen
- Symbiotische Beziehungen: Eigenes Wohl wird oft stark vom Partner abhängig gemacht.
- Unterdrückte Wut: Gefühle wie Wut und Groll über Ungerechtigkeiten werden nicht ausgedrückt.
- Latente Wachsamkeit: Fehlendes Urvertrauen führt zu einer ständigen inneren Anspannung.
- Schwach sein: Gilt as Gefährlich, ständig hohe Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit, Vergleiche mit Anderen. Keine Gesunden grenzen. Schwäche gilt als Versagen und entwertend.
Unsere Muster werden wir im weiteren Leben unbewusst auf alle Beziehungen und Bindungen übertragen!
Schritte zur Überwindung: Klare Handlungsansätze
- Selbstverständnis und Eigenliebe entwickeln: Erkenne und akzeptiere, dass diese Muster einst Überlebensstrategien waren und heute nicht mehr notwendig sind.
- Eigene Bedürfnisse wahrnehmen: Achte auf deine Gefühle und Bedürfnisse und erkenne, wann du dich vernachlässigst. Erlaube dir, eigene Wege zu gehen.
- Reflexion durch Schreiben: Verarbeite Erfahrungen, indem du deine Gedanken aufschreibst oder Briefe aus der Perspektive des Kindes verfasst.
- Selbstakzeptanz und Trauer zulassen: Lass die Trauer darüber zu, dass du nicht unbeschwert Kind sein konntest. Du warst nicht schuld – du warst das Kind.
- Grenzen setzen: Lerne, respektvoll „Nein“ zu sagen und deine Bedürfnisse zu vertreten. Überprüfe alte Glaubenssätze und wirf sie über Bord, wenn diese nicht deine sind.
Fazit: Die Kraft der Selbstreflexion und der Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben
Parentifizierung bringt viele Herausforderungen mit sich, formt jedoch auch besondere Fähigkeiten wie Empathie, Verantwortungsbewusstsein und ein ausgeprägtes Verständnis für die Bedürfnisse anderer. Diese Stärken können, wenn sie bewusst gelebt und ausgeglichen werden, zu wertvollen Ressourcen im Leben werden. Wichtig ist, die eigenen Muster und Verhaltensweisen zu erkennen und unsere „Nöte“ zu verstehen, dass sie aus einer Überlebensstrategie der Kindheit stammen. Das Bewusstsein darüber eröffnet den Weg, um sich von alten Erwartungen und Vorgaben zu lösen und den eigenen Bedürfnissen Raum zu geben und Leichtigkeit zu empfinden. Wir bemerken oft nicht, das die Zeit der Anpassung vorbei ist und wir heute frei sind!
Gespräche mit den Eltern können, wenn sie dazu bereit sind, alleine oder mit Unterstützung in einem geschützten Rahmen wie einer Mediation wertvolle Klärung und Heilung bringen. Sollte dies nicht möglich sein oder die Eltern nicht reflektieren können, kann auch ein persönliches Coaching ein unterstützender und heilsamer Raum sein, um die eigenen Verletzungen aufzuarbeiten und alte, überholte Muster zu lösen. Wir müssen auch akzeptieren, wenn Eltern nicht die Kraft haben, alte Wunden anzuschauen und mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen haben! Die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit schenkt uns die Möglichkeit, frei und selbstbestimmt aufzublühen und die Beziehungen im eigenen Leben – zu sich selbst, den eigenen Kindern und den Eltern – neu und bewusst zu gestalten.